Wahrheit und Ideologie - auf einen Spaziergang mit Luigi Pareyson
In seinem Werk „Veritá é Interpretazione“ (engl. Truth and Interpretation) beschreibt der Philosoph, Luigi Pareyson, zwei Arten die Welt zu denken und zu beschreiben.
Zum einen spricht er von „offenbarendem Denken“, das die Welt aufdeckt, indem es sie interpretiert. Bei dieser Art zu denken, bleibt man bei dem, was man von seinen Erfahrungen her sagen kann. Man beobachtet und interpretiert die Welt, die einem erscheint, durch die eigene Brille.
Indem man das tut, gründet man die eigenen Worte auf die eigene Existenz und es entsteht eine Interpretation der Welt.
Dieses „offenbarende Denken“ ist für Pareyson daher auch „wahre“ Rede von der Welt. Das offenbarende Denken ist wahr, weil es sich bemüht, die Welt, wie sie erlebt wird, abzubilden.
Auf der anderen Seite steht für Pareyson „expressives Denken“. Expressives Denken zeichnet sich dadurch aus, dass in seinem Zentrum eine Idee steht und es sich über diese Idee entfaltet. Sowohl subjektive Phantasien (Einhörner, Drachen usw.), als auch Verobjektivierungen der Welt (Männer/Frauen/…, homo-/hetero-/bi-/…sexuell, ) gehören in diese Kategorie.
Diese Art zu denken, ist „expressiv“, so Pareyson, weil es weniger die Welt an sich (das Sein) aufdeckt, sondern vielmehr denjenigen, der hier denkt. Es ist seine Idee von der Welt, die hier im Mittelpunkt steht und ausgedrückt wird.
Expressives Denken in meschlicher Gesellschaft hat dabei die Eigenschaft, das es immer funktional ist: man teilt Anderen die eigenen Ideen ja nicht einfach so mit, sondern mit einem, mal bewussten und mal unbewussten, Zweck. (Und sei es, dass der Zweck das bloße Gehörtwerdenwollen, ist.)
Damit ist expressives Denken nicht wahr, sondern „ideologisch“: Es stellt eine Idee ins Zentrum, die meist für andere Zwecke gebraucht wird oder benutzt werden kann. Seine Funktion ist es dabei, die Welt nutz- und lebbar zu machen.
Warum breite ich das aus?
Ich finde Pareysons Unterscheidung aus mehreren Gründen sehr hilfreich. Beide Ansätze menschlichen Denkens haben ihre Vor- und Nachteile.
Durch Ideologie lassen sich Dinge oft schnell umsetzen: Ich kann zum Beispiel darüber nachdenken, was wir bräuchten, um zu einer gerechteren Gesellschaft zu kommen und andere dafür gewinnen. Gleichzeitig besteht die Gefahr dabei, dass ich Aspekte der Welt übersehe und sogar, wie im Fall von Industrialisierung und Krieg, die eigenen Lebensgrundlagen zerstöre – ganz im Sinne des Spruches „Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.“ Trotzdem komme ich, im besten Fall, zu umsetzbaren Lösungen.
In Wahrheit bleibt die Welt aber auch immer ein Stück unzugänglich für das menschliche Wissen: die menschliche Erkenntnis ist begrenzt und die Welt ist scheinbar unbegrenzt groß und dynamisch. Auch wenn es in ihr gewisse „Naturgesetze“ zu geben scheint, ist es doch etwas anderes, in ihr wirklich zu leben. Menschliches Leben selbst ist eben nicht nur objektiv sachlich, sondern lebendig, emotional-dynamisch. Erst wenn ich die Worte, die ich spreche, in meiner eigenen Existenz verwurzele, werden sie daher wahr. Echte Begegnung von Mensch und Welt, von Mensch und Mensch, in der man sich auch gegenseitig stehen lassen, aber auch bereichern kann, findet erst hier wirklich statt. In wahrheitsgemäßer Rede wird die Welt nicht verhandelt, sondern aufgedeckt, was da ist und geteilt. Gleichzeitig ist bl0ße Begegnung eben noch kein gemeinsames Gestalten.
Ich finde Pareysons Unterscheidung auch hilfreich, weil sie das alte schwarz-weiß-Schema zwischen subjektiver Wahrheit und objektiven Fakten als zu oberflächlich entlarvt. Weder ist Wahrheit nur subjektiv und jeder muss halt nur „seine Wahrheit finden“. Noch muss alles abstrahiert und in objektive Kategorien und Naturgesetze überführt werden und alles kalt und technokratisch werden. Sondern:
1. „objektive“ Fakten finden sich wahrheitsgemäß (lose nach Pareyson) immer nur in subjektiven Interpretationen, aber sie finden sich dort.
Das, was Fakten „objektiv“ macht, ist unsere menschliche Grundkondition als körperliche Wesen. Weil sich unsere Körper so sehr ähneln und wir die Welt folglich im Großen und Ganzen ganz ähnlich wahrnehmen, können wir erstens miteinander reden und zweitens auch eine gemeinsame Welt annehmen, über die wir reden.
Dort, wo echtes Gespräch über Realitäten stattfindet, findet folglich auch echte Begegnung zwischen Menschen statt.
2. Es kann immer gefragt werden: auf welcher Ebene sind wir jetzt unterwegs?
Wer sich dieser Unterscheidung bewusst ist, kann Partnerschaften zur Umsetzung gewinnen, destruktive Forderungen als solche durch intensiveres Nachfragen entlarven oder Welterfahrung gemeinsam vertiefen. Auch für den christlichen Glauben kann diese Reflektion hilfreich sein: an welcher Stelle ist die Idee tatsächlich "wahr" und ins Herz gerutscht und an welcher Stelle plappere ich bloß ein Zeugnis anderer nach, ohne es wirklich verstanden zu haben? Ich finde, diese Einsicht hat das Potenzial gesellschaftlichen Diskurs ungemein zu entspannen. Immer und immer wieder werden in unserer Gesellschaft ja Abstraktionen als Wahrheiten verkauft, Forderungen verabsolutiert und einander Dummheit und Verstandeslosigkeit vorgeworfen. Wenn man diese Unterscheidung aber anwendet, stellt sich ganz einfach die Frage: wozu ist der Diskurs jetzt gut? Was wollen wir erreichen?
...Was für ein Potenzial es wohl hätte, wenn wir so reflektierend miteinander unterwegs wären und all die Unsicherheiten miteinander aushalten könnten, die die eigene Existenz mit sich bringt...?
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