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Gott... - Ist das relevant oder kann das weg?

Als jemand, der an Gott glaubt, sticht mich diese Frage etwas, weil sie eine zentrale Realität meines Lebens zu bagatellisieren scheint. Und doch ist es eine Frage, die heute gestellt werden muss, da die Relevanz eines unsichtbaren Gottes vielleicht noch nie so sehr in Frage stand, wie heute. Auch wenn Religion nicht verschwindet, wie noch vor wenigen Jahrzehnten angenommen, scheinen wir in einer Zeit zu leben, in der die gesellschaftliche Rede von "Gott" grundsätzlich entwertet wirkt; wie ein Märchen aus einer anderen Zeit. Schon Friedrich Nietzsche hat diese Beobachtung mit seiner Rede vom Tod Gottes im 19. Jh. versucht in Worte zu fassen. Als Theologe finde ich mich zunehmend in einer Position wieder, in der ich mich dafür erklären muss, überhaupt die Frage nach Gott zu stellen. Vorstellungen von Gott werden zwar meist nicht direkt abgelehnt – „ich mein, wenn’s dich glücklich macht…“ – werfen jedoch in der Regel erstmal Fragen auf:

„Warum würdest du an einen Gott glauben, wenn Leben doch auch so funktioniert?“

Das ist eine gute, ja relevante Frage, finde ich, wenn sie ernsthaft gestellt wird. Oft aber scheint dahinter eher eine Grundeinstellung zu stehen, die ich bei Ludwig Feuerbachs im 19. Jh. wiederfinde; nämlich, dass Gott nichts anderes ist, als die Projektion unseres eigenen Seins. Es ist eine grundsätzliche Anfrage an Gottesbilder überhaupt, die sich in folgender Behauptung widerspiegelt:

"Das Wesen des Glaubens, welches sich durch alle seine Gegenstände bis ins Speziellste hinein bestätigen lässt, ist, dass das ist, was der Mensch wünscht - er wünscht unsterblich zu sein, also ist er unsterblich; er wünscht, dass ein Wesen sei, welches alles vermag... also existiert ein solches Wesen."   

        Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 230f.     

Welche Bedeutung hat Gott also noch in unserer Zeit und welche sollte die Gottesfrage haben?

Für mich ist gerade die Gottesfrage zentral für unser Leben. Ich empfinde es als große Tragik, dass die Frage so sehr an den Rand gerückt zu sein scheint.

Welche Bedeutung hat "Gott" also für uns heute?

In Deutschland scheinen wir uns als Gesellschaft keine großen Gedanken darüber zu machen, wer Gott ist. Immer wieder greift eine Tageszeitung mal auf, warum es so manchen Feiertag noch gibt, hinterfragt das Tanzverbot an Karfreitag oder lässt einen Bischof zu einer Gesellschaftsfrage Stellung beziehen. Doch echter Diskurs über die Gottesfrage ist, in meiner Wahrnehmung, weitestgehend kirchlichen Formaten vorbehalten. Vergangen sind die Zeiten, in denen Menschen des gesamten europäischen Kontinents, wie bspw. in der Reformation oder der Aufklärung, über theologische Thesen diskutierte. Vergangen sind die Zeiten, in denen man klare Vorstellungen von Gott besaß, diese Gottesbilder in der Öffentlichkeit teilte und offenherzig diskutierte. Die Vorstellung einer kosmischen Kraft, die alles irgendwie bewegt und zueinander führt, ist der Wissensgesellschaft, und spätestens dem Klimawandel mit seinem negativen Ausblick auf die Welt, zum Opfer gefallen. Die „höhere wohlwollende Macht“, die es gut mit uns meint, unterliegt der Anklage des Weltleids. Auch der Gott der Philosophen, der "unbewegte Beweger", das "absolute Gute" ist irrelevant geworden, schließlich wird er nicht mehr gebraucht, um gesellschaftliche Diskurse über Gut und Böse zu führen; schließlich gibt es genug Gewalt und Leid, das es zu verhindern gilt...! Auch wenn in einer repräsentativen Umfrage des MDR immerhin 58% der deutschen Befragten noch bejahten, an einen Gott zu glauben, treten selbst kindliche Vorstellungen von Gott in den Hintergrund. An einen persönlichen Gott glaubte 2017 nur ein Bruchteil der Befragten.

Wer oder was sollte Gott denn schon sein? Und warum sollte es relevant sein, wer oder was Gott ist?

Hinter dieser Einstellung und all den Anfragen scheint mir vor allem ein Grundgedanke zu stehen, der über Sigmund Freud und den schon erwähnten Ludwig Feuerbach Salon gemacht hat: dass letztlich "Gott" nur eine Projektion meiner eigenen Wünsche und Ideale, eine Art Lebenskrücke, ist.

Ein Mensch, der sein Potenzial abruft, der wahrlich Mensch ist, der brauche Gott doch nicht, weil er auf sich selbst bauen kann. Ja, „Gott“ entpuppt sich doch letztlich eben nur als mein eigenes Ich, oder? Feuerbach:

„Was ist also das Sein Gottes anders als das Sein des Menschen, als das absolute Sich-selbst-gut-Sein des Menschen?“ [1]

Denkt man diesen Gedanken weiter, stellt sich, scheinbar unweigerlich, die Frage: Ist der Gottesgedanke dann nicht vielleicht sogar schädlich? Ja, steht er nicht meiner Selbstverwirklichung gerade im Weg? Klar kann man dem anderen seine Vorstellungen lassen, solange sie niemandem sonst schaden, aber… es wäre es ja sicher besser, sich die Wahrheit seiner eigenen Wünsche einzugestehen als in einer Illusion zu leben und von irgendeinem „Gott“ zu träumen, oder…?

Diese generelle Einstellung treffe ich heute, mehr oder weniger pronunziert, oft an. Nicht Gottesvorstellung, sondern die Vorstellung vom eigenen Selbst und persönliches Wachstum stehen im Zentrum. Religiöse Vorstellungen wiederum werden unter dem Schirm kultureller Freiheit und individuellem Selbstausdruck zumeist toleriert.

Wozu um alles in der Welt braucht es also noch "Gott"?

Persönlich glaube ich, dass die Frage nach Gott die zentralste Frage menschlichen Lebens ist. Dementsprechend beunruhigt mich die gesellschaftliche Sprachlosigkeit, die ich wahrnehme. Aus zweierlei Gründen: Zum einen ist die Frage nach Gott einfach keine Randfrage menschlichen Seins; zum anderen glaube ich – Pastor, der ich bin – aber auch ganz persönlich an Gott im christlichen Sinne und entdecke gerade in diesem Glauben die Erfüllung guten Lebens. Die Frage nach Gott zu vernachlässigen, wäre, meines Erachtens, also gesellschaftlich fahrlässig.

Schon Martin Luther, im 16. Jahrhundert, sah die Frage nach Gott als vielleicht elementarste Grundfrage des Lebens. Er meinte:

"Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott." [2]

Diese Frage Luthers fordert mich heraus, meine Gottesvorstellungen zu hinterfragen und zu fragen, woran ich, ganz persönlich, wirklich im Leben glaube. Ich kann ja an alles mögliche rational glauben… aber worauf vertraue ich? Wem vertraue ich mich in letzter Instanz an?

An diesem Punkt ist die Gotteskritik Feuerbachs von dem Statement Luthers nicht weit weg.

Ist das, was ich über Gott sage, letztlich nur eine Projektion meiner Wünsche und Ideale, aber ich vertraue letztlich auf was ganz anderes? Oder in die andere Richtung gefragt: Ist das, worauf ich vertraue, eigentlich vertrauenswürdig, oder ist es ein Hirngespinst, auf das ich vergeblich setze?

Die Frage Luthers ist eine christliche Anfrage an die Welt. Sie fordert dazu auf, die eigene Perspektive zu hinterfragen. Und ich meine: genau diese Hinterfragung brauchen wir! Denn als Menschen sind wir eben begrenzt. „Unsere Erkenntnis ist Stückwerk“, sagt schon der Apostel Paulus im Neuen Testament.[3] Wir brauchen daher immer wieder das Gespräch mit dem Anderen, das uns ein Stück der Welt offenlegt. Es ist dabei gerade die Gottesfrage, die den Menschen aus der eigenen Ichbezogenheit reißt. Sie stellt ihn nämlich vor die Frage, ob es über die eigenen, individuellen und gemeinschaftlichen Horizonte und Interessen hinaus überhaupt eine andere Autorität geben kann.

Allein diese Frage zu stellen also, entkräftigt die eigene Perspektive. Die Frage nach Gott sprengt den menschlichen Blick förmlich auf, der meist hauptsächlich auf sich selbst und den eigenen Dunstkreis ruht. Sie ist, in diesem Sinne, eine wichtige Frage für menschliches Leben überhaupt.

Die Frage nach Gott und den Göttern des eigenen Lebens ist aber auch eine persönliche Frage. Deshalb verlegen wir sie gerne ins Private. Weil sie so wichtig ist, braucht sie aber, meines Erachtens, gerade das öffentliche Forum, die öffentliche Diskussion, in der diskutiert wird, ob und welche „Götter“ vertrauenswürdig sind. Könnte es denn nicht sein, dass uns manche Dinge, an die wir Menschen unser Herz verschenken, mehr, und uns andere weniger guttun…?

Könnte es nicht sein, dass hinter den „angeblichen ‚letzten‘ Wirklichkeit[en]“ unserer Ideale nicht „auch noch eine allerletzte Wirklichkeit der Götterdämmerung, des Göttertodes“, wie Dietrich Bonhoeffer es formuliert hat,[4] besteht? Also, dass unsere „Götter“ in Form von Wünschen und Idealen uns letztlich nur selbst versklaven und der Größe der Welt nicht gerecht werden?

Das gilt sowohl für persönliche Ideale, die man als Mensch so hat, als auch für die Gottesvorstellungen, an die Glaubende sich festhalten.

Auch aus der Perspektive des Glaubens sollte, meiner Meinung nach, daher diese Frage gestellt werden. „Wer bist du, Gott?“ – diese Frage tut der eigenen Seele gut, weil sie vor der eigenen Begrenztheit befreit und gleichzeitig am Erkannten festzuhalten weiß.

"Wer nicht nach Gott fragt“, sagt der antike Psalmendichter, „schafft sich viel Kummer; aber wer dem HERRN vertraut, wird seine Güte erfahren."[5]

Ich bin froh, dass sich der christliche Glaube an Gott immer wieder neu reflektiert und sich selbst und seine Gottesbilder zu hinterfragen weiß. Dass er sich genau innerhalb seines begrenzten Wissens reflektiert, der Größe Gottes vertrauen lernt, und ins Gespräch geht. Die christliche Botschaft an die Welt ist: In der Gottesfrage liegt das Versprechen heilsamen Lebens verborgen. „Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Licht sehen wir das Licht.“[6]

Doch auch für alle, die die Rede von Gott erstmal verwerfen, kann diese Frage zutiefst relevant sein. Sie wagt es, den eigenen Schatten zu überspringen und den „Gott“ zu hinterfragen, der am Ende des Tages Entscheidungen treffen muss; mich selbst.


  1. Ebenda. ↩︎

  2. Martin Luther, Großer Katechismus, im Internet abrufbar. ↩︎

  3. 1. Kor 13,9 ↩︎

  4. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, S.32 – Bonhoeffer greift hier Bedenken und Einwände Friedrich Nietzsches auf. ↩︎

  5. Ps 32,10 ↩︎

  6. Ps 36,10 ↩︎