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3 Thesen für die Zukunft der Kirche im 21. Jahrhundert

Wie bleibt christliche Kirche für eine globalisierte, schnelllebige Welt relevant? Ich stelle 3 Faktoren dar, die Kirche meines Erachtens mehr in den Fokus nehmen sollte.
3 Thesen für die Zukunft der Kirche im 21. Jahrhundert
© Konrad Hofmann

Schon viele haben darauf hingewiesen: In Europa leben wir heute in einer nachchristlichen Ordnung. Die Verquickung von Staat und Kirche führte in vielen Bereichen des Kontinents über Jahrhunderte zu einer Welt sozialer Zwänge, in der man eben "Christ" zu sein hatte, wenn man ganzer Teil der Gesellschaft sein wollte. Das hatte mal mehr, mal weniger authentisches Christsein, aber vor allem viele Strukturen zur Folge, die unser Leben bis heute prägen. Erst nach und nach löst sich die europäische Gesellschaft von diesen Ordnungen; in ordnungspolitischen Stadtstrukturen bspw. oder in Lokalkulturen, die Traditionen und Lokalpatriotismen weiterführen, bleiben sie indirekt am Leben. Doch Europa, und auch Deutschland, ist plural geworden. Nicht nur Aufklärung und Migration haben das Gesicht und religiös-soziale Selbstverständlichkeiten verändert. Krieg und Gewalt, an denen auch die Kirchen ihren Anteil hatten, Ideologien und Aufbruchsstimmung haben die Lage verändert und führen zu einem steten Abbau religiösen Selbstverständnisses in unserem Land. Die Zahl derer, die sich einem christlichen Bekenntnis zurechnen, nimmt stetig ab.

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Ist es da nicht Zeit, sich neu zu verorten und, wenn nötig, neue Wege zu gehen?

Die vielfältigen Reformprozesse in den christlichen Kirchen sprechen eine eindeutige Sprache: Ein großer Transformationsprozess hat begonnen. Dabei steckt die inhaltliche Reflektion, meines Erachtens, immer noch in den Kinderschuhen. Erst nach und nach kommt in den christlichen Kirchen Europas an, dass im Angesicht der globalisierten Welt tatsächlich auch eine inhaltliche Neubesinnung gefordert ist.

Die Zukunft der Kirche wird, meiner Meinung nach, von 3 grundlegenden Faktoren abhängen:

  1. die Verwurzelung in christlicher Gemeinschaft.
  2. eine plausible Perspektive guten Lebens.
  3. selbst-bewusstes Weitertradieren, d.h. die kontinuierliche Neuversprachlichung des eigenen Standpunktes

1. Kirche im 21. Jh. ist in christlicher Gemeinschaft verwurzelt.

Christliche Identität leitet sich von Christus her ab, der seine Wirkungszeit damit verbrachte, Menschen zur Gemeinschaft einzuladen. Das schien der frühen Kirche so wichtig zu sein, dass das Johannesevangelium zum Beispiel formuliert: "An der Liebe unter euch, werden sie euch als meine Jünger erkennen." Durch alle Zeiten hindurch scheint mir erneuerte "Gemeinschaft der Glaubenden" Merkmal jeglicher Reformbewegungen zu sein.

Das ist auch eigentlich nur logisch. Identität bildet sich schließlich im Gespräch mit anderen Menschen, nicht unabhängig davon.[1] Trotzdem sieht sich und/oder handelt Kirche aber oft nicht in erster Linie als eine solche Gemeinschaft, sondern als Institution. Vielfältige Wege wurden in den Jahrhunderten eingeschlagen. Wahlweise begründet sich Kirche durch ihre Ämter und Strukturen, durch ihre theologischen Inhalte, ihre gesellschaftliche Funktion oder ihre sozialen Programme. So wichtig all diese Aspekte für die soziale Existenz der Kirche sein mögen: ohne eine Verwurzelung in echter Gemeinschaft wird sie ihre Identität in einer pluralen Gesellschaftsordnung nicht aufrechterhalten können.

Der Weg zur Kirche der Zukunft führt also nicht primär über die Interessen der Gesellschaft, sondern zurück zu menschlicher Beziehung. Genau an diesem Ort, an den Grenzen des sozialen Miteinanders, im "Kampf der Liebe", wie Karl Jaspers es nennt, findet sie zu sich selbst, weil hier in Frage steht, was wirklich Liebe und was "christlich" ist und was im Leben wirklich trägt.

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Was die Kirche also vielleicht mehr als alles andere braucht, sind in der Gemeinschaft und im Glauben verwurzelte Mitglieder, die aufstehen, tradierte Formen hinterfragen, vergangene Übel ansprechen und entstehende Konflikte aus Liebe aushalten.

Übel und veraltete Formen ansprechen kann jeder und tun auch heute viele. Aber wer bleibt in unserer heutigen Zeit noch dabei? Wer lässt sich genauso hinterfragen, wie er selbst hinterfragt? Wer steht mitten in der Tradition und wagt es, auf ihre Schattenseiten zu blicken und diese an mancher Stelle in kritischem Verhältnis auszuhalten und weiterzuführen? Stattdessen vereinsamt unsere Zeit. Pluralismus und Medien führen zu Gedanken- und Meinungsblasen, in denen Begegnung nur bedingt stattfindet. Echte Gemeinschaft, in der man Konflikte aushält und führt, verblasst zu Einheitsenge auf der einen und medialer Distanz auf der anderen Seite.

Mir scheint: fast nichts ist heute stärker als Orte, an denen sich Menschen begegnen und miteinander im Gespräch sind und bleiben, miteinander ringen, kulturelle Unterschiede weder einfach abwerten, noch undifferenziert feiern, sondern die Wahrheit in allem anstreben und selbst den Fremden noch mit hineinnehmen.

2. Kirche im 21. Jh. bietet ein plausible Perspektive guten Lebens im Angesicht des Todes

Wenige Themen scheinen für Menschen heute so wichtig, wie die Erfüllung und Erhaltung des eigenen Lebens. Die Buchläden sind voll von Anleitungen, wie man gut lebt: die richtigen Essenskuren, richtige mentale Strategien und psychologische Tools, um das Leben genießen zu können, produktiv zu sein, gesund zu bleiben, das Klima zu erhalten, ja, selbst den Tod zu besiegen. Wer würde das alles auch nicht wollen? Schon der biblische Prediger schreibt davon, dass die Ewigkeit im menschlichen Herzen wohnt und dass es sich des Lebens trotz Vergänglichkeit zu freuen gilt.

Im Alltag angekommen erscheinen all die Anleitungen jedoch schnell als begrenzt. Krankheiten kommen, Umstände verändern sich, neue Identitäten nutzen sich ab. Wenn ich in die Gesellschaft, und auch in mein eigenes Leben, schaue, fällt mir auf, wie es dann von einem Trend zum nächsten geht. Ganz begeistert greift man den neuen Trend auf, weil man sein Leben plötzlich in einem neuen Licht sieht. Man meint die Lösung gefunden zu haben. Doch bei aller Hilfe, bleibt der Tod mit all seinen Gehilfen eine Realität. Dinge gehen zu Ende und Lösungen greifen nicht mehr. In melancholischen Momenten erscheint das Leben dann schwer und einsam. Was bleibt am Ende?

Das Leben ist ambi-, ja polivalent. In meiner Wahrnehmung hat sich christliche Dogmatik in den vergangenen Jahrhunderten zwar mit dieser Ambivalenz und der Frage nach Erfülltem Leben (vor allem im Rahmen der Eschatologie und der Theodizee) auseinandergesetzt. Vielfach wurden Anfragen an die Theologie auch von außen gestellt (1. Weltkrieg, Nationalsozialismus, Atheismus o.ä.). Meist blieb die Auseinandersetzung der Predigt vorbehalten, andere theologische Fragestellungen erschienen wichtiger oder man behauptete einfach, das ewige Reich des Guten, das "Reich Gottes", sei schon voll da oder müsse hergeholt werden, bemühte sich, es umzusetzen und scheiterte an der Realität.

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Will christliche Kirche in unserer Zeit bestehen, glaube ich, geht es nicht ohne eine plausible, realistische Perspektive des guten Lebens aus christlicher Sicht zu zeichnen. Welchen Wert hat das Leben im Angesicht des Todes und wie lässt es sich praktisch leben? [2]

Wenn ich in die Gesellschaft schaue, stelle ich fest, dass Menschen ihrem Leben oft nur vermittelt einen Wert geben. Man findet seinen Wert in dem, was man erreicht oder geschaffen hat. Man findet seinen Wert, in dem, was man weitergegeben hat und welches Gute man der Welt mitgegeben hat. Man findet seinen Wert im Glauben an die eigene Kraft, in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder daran, dass andere Wert in einem erkennen.

Christliche Theologie hat in der Regel tiefere und tragendere Antworten parat, schließlich redet sie von einem Gott, der die Welt erhält und den Tod überwindet. Sie erklärt die Würde des Lebens. Im 21. Jahrhundert wird es darauf ankommen, dass sie diese theoretischen Grundlagen nicht nur deklariert, sondern zum Ausgangspunkt ihres Denkens und Seins werden lässt.

3. Kirche im 21. Jh. bewegt sich bewusst in der Zeit und hat einen offenen Blick auf sich selbst.

Warum schließen heute so viele Menschen mit Kirche ab? Allzu oft erscheint es mir, dass ein wesentlicher Grund ist, dass Kirche sich selbst nicht ernst nimmt. Sie beschreitet dabei mehrere Wege das zu tun. Sie kann, beispielsweise, starr an Vergangenem festhalten - an Strukturen, Formen oder Glaubensformulierungen. Damit verfehlt sie ihre eigene Gegenwart, ihr eigenes Sein, das ja im Jetzt stattfindet und in Bewegung ist. Gegensätzlich kann sie versuchen, für alle alles zu sein. Damit schafft sie ihr eigenes Selbst ab und wird zum Inbegriff der Gesellschaft. Beides bewirkt in unserer Zeit, dass sie sich selbst auflöst.

Eine Kirche, die vergangene Formen verabsolutiert wird zur Parallelwelt. Das ist in der Vergangenheit oft geschehen und womöglich sogar gut gegangen. Die Gesellschaft hat sich sowieso nicht so schnell verändert. Alternativen waren oft weit weg. Und irgendwann hatte jemand keine Lust mehr und löste Reformen aus. (Vereinfacht beschrieben.) In unserer hochgradig vernetzten Welt gibt es jedoch de facto keine abgeschlossenen Räume mehr. Gesellschaftliche Veränderungen passieren schnell, Berührungen der Räume sind unvermeidbar. Oft versucht Kirche heute daher einen Kompromiss: Sie ist in Lehre und politischer Einstellung hochgradig flexibel, behält aber Sprachformen, Rhetorik und Gottesdienststil des 18. Jahrhunderts bei, oder behauptet, dass Formen flexibel sein sollten, aber die Lehre immer gleichbleiben solle. Diese, meist angstgeleiteten, Kompromisse können jedoch den Relevanzverlust der Kirchen in Europa nicht wettmachen.

Eine Kirche wiederum, die alle Entwicklungen in sich aufnehmen will, damit sie nicht hinterherhinkt und relevant bleibt, wird zum Inbegriff der Gesellschaft selbst. Sie fällt auseinander, zerfährt sich genau in dem Maße im Tribalismus, wie die Gesellschaft sich zersetzt. Will sie daher dann überhaupt überleben, wird sie ihre eigenen Strukturen absolut setzen und Werbung für die Teilhabe an diesen Strukturen und der Gesellschaft machen, weil sie kein eigenes kritisches Korrektiv mehr hat, das gesellschaftliche Entwicklungen begleiten kann. Entweder passiert es dann, dass sie schlichtweg abgelehnt wird, weil sie eben keine eigene Identität hat, oder sie wird totalitär und moralistisch in ihrem freiheitlichen Selbstverständnis und drängt "Reaktionäre" und "Konservative" aus den eigenen Reihen.

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In einer Welt, die sich konstant weiterentwickelt und sich vielleicht schneller bewegt als ihr selbst lieb ist, braucht es eine Kirche, die sich auf das Wesen der Welt als sich-verändernde einlässt, sich also auch selbst als immer-in-Veränderung-stehend und kontextuell begreift. Und es braucht eine Kirche, die einen Standpunkt hat, von dem aus sie Veränderungen reflektieren, sich auf sie einlassen und gleichzeitig kritisch zu diesen Veränderungen ins Verhältnis setzen kann. Ansonsten fällt sie allzu schnell der Relativierung der pluralen Gesellschaft zum Opfer und verliert ihre Relevanz.

Eine gegenwartsorientierte Kirche wird ihr eigenes Erbe weder glorifizieren noch verteufeln. Sie wird ihre Verfehlungen - bzw. die Verfehlungen ihrer Vorgänger - eingestehen und genauso die Schätze, die sie findet, pflegen und für sie einstehen. Sie hat einen offenen Blick auf sich selbst! Sie wird sich in ihren Äußerungen selbst hinterfragen, wenn es Anfragen gibt, und an dieser Selbstkritik wachsen. Die Kirche der Zukunft kann sich nicht von ihrem Erbe abwenden - ohne das Erbe wäre sie ja nie so geworden, wie sie ist! Gleichzeitig wird sie auch weder ihre Formen und Strukturen, noch Theologischen Sätze als absolut betrachten, sondern im Rückgriff auf Tradition und Gegenwartsgespräch, Worte für die Realitäten finden, die es zu beschreiben gilt. Nur dadurch ist sie überhaupt fähig, im Pluralitätsgewirr wirklich am Ball zu bleiben.

Eine Kirche, die so unterwegs ist, ist also weder progressiv noch konservativ, sondern schlicht gegenwartsbezogen.

Fazit

Eine Kirche, die in christlicher Gemeinschaft verwurzelt ist, die eine Lebensperspektive bietet und gegenwartsbezogen ist, hat es natürlich immer schon gebraucht. Heute erscheinen mir diese Faktoren aufgrund der gesellschaftlichen Situation nur wichtiger denn je. Eine Kirche, die diese drei Faktoren nicht in den Fokus nimmt, wird meiner Meinung nach ganz grundsätzlich Schwierigkeiten haben zu überleben. Alternativen sind möglich, aber nur schlecht und allzumenschlich: Besitz, Macht und Moralisierung.

Alternativen also, die dem Vorbild Jesu widersprechen.


[1] Schon Karl Jaspers vor circa 100 Jahren hat darauf hingewiesen, vgl. Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin: Springer, 1919, S. 108-113. Ähnliche Analysen finden sich z.B. auch bei Martin Buber, in Das dialogische Prinzip, oder bei Dietrich Bonhoeffer, in Sanctorum Communio.

[2] Einen vielversprechenden Ansatz findet man im englischsprachigen Raum: das Yale Center for Faith & Culture versucht diese Fragen in den Fokus zu nehmen, siehe faith.yale.edu